Die Natur, so wird es behauptet, braucht den Menschen nicht um zu überleben. Sie ist da,
wächst, vergeht, mutiert und wächst weiter. Einiges bleibt auf der Strecke, anderes kommt hinzu.
Organische und anorganische Elemente bilden ein Gemenge, das wir Welt nennen und das
wir als Menschen betrachten, erforschen oder uns zu Eigen machen. Die
Ausformung von Lebewesen oder leblosen Materialen folgt dabei häufig einer inneren
Notwendigkeit, die wir gelernt haben, teilweise zu entschlüsseln und die unsere
Wahrnehmung von Schönheit geprägt hat. Biologen, Chemiker oder multidisziplinäre
Naturwissenschaftler könnten erklären, weshalb diese oder jene chemische Verbindung
gerade so symmetrisch angelegt ist, um zu funktionieren.
Schematische Darstellungen von Molekularstrukturen führen zu Erinnerungen an
Gebilde aus Gitternetzlinien mit Ein- und Ausgängen. Es waren diese Oktogone, aus
deren Ecken sich diagonale Linien auf weitere Oktogone zubewegen, um dann zu
einem riesenhaften Gewebe zusammenzukommen.
Zu einem wesentlichen Baustein unserer Welt mit einem hübschen Molekularbauplan
gehört Siliziumoxid. Besser bekannt unter dem Namen Quarz, kann dieser Stoff je nach
Zustand und Nachbarschaft allerlei Formen annehmen, die mittels leistungsstärkster
Mikroskope selbst im Nanobereich sichtbar gemacht werden können. Bergkristall,
Quarzsand, nicht zuletzt der Diamant bestehen aus SiO2.
Die in Baden Württemberg geborene Künstlerin Marietta Hoferer verwendet jedoch
keine Mikroskope, um das imaginäre Innenleben unbekannter Stoffe sichtbar werden zu
lassen. Sie scheint mit konzentrierter Leichtigkeit die Bausteine der Welt aus der
Betrachtung makroskopischer Elemente transformiert, in ihrem Gedächtnis aufgereiht
und über ihre Fingerspitzen wieder zu Papier gebracht zu haben. Rechteckig oder
oktogonal, in Linien oder Gittern, manchmal rund doch immer regelmäßig strukturiert
sind die Elemente ihrer „Baupläne“.
Was ist das für monochrome eine Welt, die Marietta Hoferer dem Betrachter zeigt und
wie bildet sie sie aus? Die Künstlerin greift auf ein reiches Arsenal haptischer,
handwerklicher und künstlerischer Erfahrung zurück. In der Bildhauerklasse der
Hochschule der Künste Berlin erlernte sie den Umgang mit metallischen und
keramischen Materialien. In New York, ihrem Wohnort sein 1990, arbeitet sie seit vielen
Jahren mit Papier und Klebeband. Streifen oder Blöcke von unterschiedlich geformten
Klebebandstücken werden auf dem Papier in genau erdachter Anordnung aufgeklebt.
Das suggeriert zunächst zweidimensionale Produkte. Doch es ist etwas Anderes. Es
entführt in etwas Einzigartiges.
Auf Grundlage einer Rasterstruktur werden regelmäßig zugeschnittene, weiße
Klebestücken aufgebracht. Sie liegen in verschieden langen Streifen neben- oder
übereinander, so dass Muster entstehen, die in der flächigen Ansicht ihre Wirkung
erzielen. Über die leichte Reliefbildung der unterschiedlichen Höhen der Klebestreifen
entstehen Hell- Dunkeleffekte, die dem Bildraum seine Plastizität verleihen. Das
Dreidimensionale dringt in den Raum vor und schafft gleichzeitig neuen Raum.
Die weißen Reliefs als erhabene, tastbare Objekte stellen keine spezifischen der Natur
entlehnten Ornamente, sondern ausschließlich sich selbst dar. Wenngleich Assoziationen
zu kristallinen Strukturen, Renaissancebauplänen, gewebtem Stoff oder Mosaiken
durchaus erlaubt sind, kalkuliert Marietta Hoferer ihre Kompositionen nach einem
Prinzip, das nicht auf Nachahmung sondern eigener Intuition basiert.
In hochkonzentrierter und langwährender Feinarbeit bildet die Künstlerin aus
selbstklebenden PVC-Clustern ein quasi organisches Wesen. Mit der Augenbewegung
des Betrachters, beginnt es zu wachsen, sich zu bewegen, zu atmen, denn das Licht bläst
den seriellen Formen Leben ein. Plötzlich wird aus dem monochromen Klebstreifen auf
hellem Papier ein lebendiger Raum ungeahnten Ausmaßes. Kontraste schälen sich
heraus. Schattierungen graben sich ein. Schwerelos und tief kennt dieser Raum kein
Ende. Der Betrachter vergisst, dass neben oder hinter dem zugeschnittenen Papierträger
eine Wand ist. Das Objekt öffnet den Weitblick in ein Faszinosum von ganz
außergewöhnlicher Schönheit.
Nach Alberti (1485) könne aus dem idealen Zustand der Schönheit nichts entfernt oder
dem hinzugefügt werden ohne, dass die Schönheit gemindert werden würde. Die
Intensität der abstrakten Anordnungen in Marietta Hoferers Werk legt nahe, dass auch
hier kein noch so kleines Teil fehlen darf. Die Künstlerin schafft mit ihren verdichteten
Komposition, nicht allein Reliefs oder Grafik, sondern auch Instrument des Sehens.
Ebenso ihre jüngeren, mit Metallnadel und Grafitstift hergestellten dunklen Arbeiten
ermöglichen die Auseinandersetzung mit dem Thema der optischen Wahrnehmung.
Ähnlich wie in der Absicht der frühen minimalistischen Künstler in den 1960er Jahren
spielen Reduktion, Meditation und Konzentration auf das Wesentliche eine wichtige
Rolle im Oeuvre Marietta Hoferers. Anders als bei der konkreten Kunst bekennt sie sich
zu einer Ästhetik, die im Seriellen sehr viel Individualität findet und hierbei das Moment
des Ornamentalen als Gewinn für die Wiedererkennbarkeit einstuft. Die Künstlerin
entwickelt bei allem Minimalismus der Materialverwendung eine maximale artifizielle
Wirkung von großer Poesie und Kraft. Symmetrien folgen darin keiner Hierarchie.
Individuell, je nach Tageslichtverhältnissen und Bewegung des betrachtenden Auges
beginnt dieser künstliche Kosmos zu schweben.
Auf anscheinend natürliche Weise oszilliert der Charakter der Strukturen zwischen Nahund
Fernwahrnehmung. Symmetrien verschwimmen und das Bild wird zu einer
homogenen leichten Masse. Die aus beschichtetem Material geklebten
Kristallgitterstrukturen entfalten sich im Betrachten gleichsam zu schwerelosen
Diamanten der bildenden Kunst.
--© Marie Cathleen Haff, Berlin 2009
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